Nur mit Veränderungen gibt es Fortschritt

Valerie Höllinger, CEO von Austrian Standards, und Silvia Angelo, Vorständin bei der ÖBB Infrastruktur, über die Schlüssel zu nachhaltigem Wachstum. 

Frau Höllinger, Unternehmen mit Purpose kommen besser durch Krisenzeiten und finden mehr Personal. Wie viel Purpose steckt in Austrian Standards?

Valerie Höllinger: #drivenbymakingsense – Das ist unser Claim. Somit kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass bei uns ganz viel Purpose vorhanden ist. Unsere Arbeit ist so sinnvoll, weil wir damit unmittelbare und nachhaltige Wirkung erzielen. Alles, was wir tun, erleichtert das Leben der Menschen – ob privat, in der Wirtschaft oder der öffentlichen Verwaltung. 

Gemeint ist, dass Standards nicht um ihrer selbst willen gemacht werden, sondern aus der Praxis für die Praxis erarbeitet werden, weil Bedarf in dem jeweiligen Bereich besteht. Standards sorgen für Sicherheit in allen Lebensbereichen, bieten Lösungen aktueller und zukünftiger gesellschaftlicher Probleme und fördern Innovationen. Unsere Ergebnisse sind der Konsens aus dem Wissen zahlreicher Expert:innen und daher so valide. 

Erst kürzlich haben wir gemeinsam unsere bestehenden Unternehmenswerte auf ihre Gültigkeit geprüft und an unsere Lebensrealität angepasst. Dabei hat sich herauskristallisiert, dass die Begriffe „impactstark, innovationsfreudig und integrativ“ am treffendsten sind. Diese Werte beschreiben unsere Organisation, unsere tägliche Arbeit und die Standardisierung selbst. 

Frau Angelo, wie versucht die ÖBB Infrastruktur Sinn zu stiften?

Silvia Angelo: Wir verstehen die ÖBB als Klimaschutzunternehmen Nummer 1 in Österreich – und wir sorgen für nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Jeder von uns investierte Euro bringt zwei Euros für die österreichische Wirtschaft. Es geht darum, unsere Bahninfrastruktur up-to-date zu halten und klimafreundlich zu gestalten. Wir reden von Bahnhöfen, Schienen, Terminals, Telekommunikationsanlagen oder Wasserkraftwerken für umweltfreundliche Stromerzeugung.

Mit unseren über 18.000 Mitarbeiter:innen schaffen wir so ein Beschäftigungsplus ebenso bei unseren Partnerbetrieben.

Unsere Unternehmenswerte sind dabei die Leitlinien – nicht nur wir als Führungskräfte leben diese. Sie sind die Basis für unser gemeinsames Tun und die Zusammenarbeit. Wir stellen das „Wir“ vor dem „Ich“, wir überzeugen unsere Kund:innen mit unseren Leistungen und ergreifen die Initiative. Das fördert die Identifikation, was wichtig ist, um unsere Ziele in den kommenden Jahren zu erreichen.

Frau Angelo, welche Ziele verfolgen Sie in der ÖBB Infrastruktur? Wie helfen Ihnen Standards dabei? 

Silvia AngeloWir möchten einen leistungsfähigen und zuverlässigen Personen- und Güterverkehr auf der Schiene bieten. Das ist das Rückgrat für nachhaltige Mobilitäts- und Logistikangebote. Diese Position bauen wir aus, z. B. mit Konzepten zur Kreislaufwirtschaft.

Standards begleiten uns dabei. Sie dienen uns einerseits dafür, dass der Bahnbetrieb zuverlässig und sicher funktioniert. Wir brauchen kompatible Systeme, aufeinander abgestimmte Abläufe und technische Schnittstellen, damit die Mobilität wie geschmiert funktioniert.

Andererseits definieren wir mit Standards die Qualitätssicherung und die Benchmarks für mehr Nachhaltigkeit. Darauf können wir uns, darauf können sich unsere Kund:innen verlassen.

Frau Höllinger, welche Zukunftsthemen gibt es in der Standardisierung im Bereich des Güterverkehrs?

Valerie Höllinger: Die Schaffung von Standards im Güterverkehrswesen ist von großer Bedeutung, insbesondere vor dem Hintergrund der Herausforderungen und der Notwendigkeit einer Verlagerung von Verkehrsanteilen auf die Schiene. Die EU setzt sich intensiv für die Entwicklung und Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur, der Fahrzeuge und der Systeme ein, um den freien und ungehinderten Warenverkehr innerhalb der EU und weltweit zu fördern.

Die Interoperabilität – als die Anschlussfähigkeit - im Güterverkehr muss gegeben sein. Schnittstellen müssen definiert sein. Und hier dienen Standards als eine gemeinsame Sprache, die die Anschlussfähigkeit sicherstellt und wie ein Ordnungssystem wirkt. Neben der Sicherstellung der Interoperabilität von Infrastruktur- und Fahrzeugkennwerten, vor allem bei hohen Fahrgeschwindigkeiten gewinnen auch Umweltfaktoren im Verkehr zunehmend an Bedeutung. Standards, die z.B. im Komitee „213 Eisenbahnwesen“ bearbeitet werden, unterstützen die Umsetzung des "Green Deals" im Eisenbahnbereich. 

Eine laufende Anpassung der technischen Vereinbarungen ist erforderlich, um den neuen gesellschaftlichen Ansprüchen und technischen Entwicklungen gerecht zu werden. Die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Komitee für Normung (CEN), dem Europäischen Komitee für elektrotechnische Normung (CENELEC) und dem Europäischen Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission ist dabei von großer Bedeutung. 

Frau Angelo, wo könnten wir in Europa besser abgestimmt sein? Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?  

Silvia Angelo: Vor allem im Güterverkehr sind einheitliche Standards auf europäische Ebene relevant. Was meine ich damit: Um die Klimawende zu schaffen, müssen wir mehr Güter mit der umweltfreundlichen Bahn transportieren.

Die Schiene ist im Wettbewerb mit der Straße benachteiligt. Es fehlt ein einheitlicher Binnenmarkt. Ein LKW kann mit einer EU-Zulassung und einem EU-Führerschein vom Schwarzen Meer bis Rotterdam durchfahren. Ein Zug hat für diese Strecke verschiedene Sicherheitssysteme und technische Überprüfungen an den Grenzen zu überwinden. Das muss sich ändern.

Frau Höllinger, wie stellen Sie sicher, dass solche Stimmen aus der Praxis gehört werden und in die Weiterentwicklung von Standards einfließen?

Valerie Höllinger: Unser gesamter Normungsschaffungsprozess ist darauf ausgelegt, dass alle Meinungen, die eingemeldet werden, gehört und miteinbezogen werden. Dieser Prozess lebt von den unterschiedlichen Blickwinkeln und Diversität: Die Standardisierung ist eine Plattform, auf der Menschen aus unterschiedlichen Branchen, Organisationen und Positionen auf einer Ebene zusammenkommen, ihre Ansichten, Meinungen und Ideen miteinander teilen und in einem konsensualen Prozess an der Lösung eines Problems arbeiten. Die Standardisierung ist offen für alle, die sich engagieren möchten. 

Wenn nun also beispielsweise im Bereich des Personen- und Güterbahnwesens notwendige Standards fehlen oder adaptiert werden müssen, dann kann jederzeit durch Fachleute ein entsprechender Antrag eingebracht werden. 

Die ÖBB nutzt schon lange die Möglichkeit, sich aktiv in der Standardisierung zu engagieren, und bringt durch die Teilnahme in Komitees und Arbeitsgruppen Ideen und Wissen ein.

Silvia Angelo: Auch in der ÖBB selbst wollen wir Ideen unkompliziert zu teilen und sich austauschen. Wir haben etwa eine Ideenwerkstatt. Dort können alle Mitarbeiter:innen ihre Verbesserungsvorschläge einbringen. Nur mit Veränderungen gibt es einen Fortschritt.

Frau Angelo, welche Rolle spielt Diversität für das nachhaltige Wachstum?

Silvia Angelo: Aus meiner Sicht ist Diversität ein Erfolgsfaktor, um am Markt bestehen zu können. Wir setzen bei der Auswahl unseres Personals bewusst auf Vielfalt. Geschlechterheterogenität
kann beispielsweise kein Nachteil sein. Frauen stellen die Hälfte der Bevölkerung und somit der produktiven Arbeitskraft dar. Auf dieses Potenzial können wir nicht verzichten.

Für die ÖBB bedeutet das zudem: Mehr Diversität bringt weitere Perspektiven für unsere Reisenden und Kund:innen. Es braucht mehr Frauen in Führungspositionen, die mitgestalten und mitentscheiden.

Frau Höllinger, warum braucht es mehr Female Leadership auch in der Standardisierung?

Valerie Höllinger: Ich kann dem nur zustimmen. Wir leben Vielfalt nicht nur, für uns ist sie erfolgsentscheidend. Mehr Frauen in der Standardisierung bedeutet, dass mehr Perspektiven, Anliegen und Positionen berücksichtigt werden. Es ist wichtig, dass die Standardisierung inklusiv, neutral und offen für alle ist. Daher bemühen wir uns besonders, mehr Frauen für die Standardisierung zu begeistern. 

Und hier wollen wir als House of Standards & Innovation auch mit gutem Beispiel vorangehen: Wir haben ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis mit 54 Prozent Frauen unter den Mitarbeitenden. Dank zahlreicher Möglichkeiten wie Führen in Teilzeit, flexible Arbeitszeitgestaltung und Homeoffice-Vereinbarungen können wir auch gezielt Frauen in Führungspositionen fördern und auch die Geschäftsführung ist bei uns zu 100 Prozent weiblich.

Frau Angelo, viele reden über den Klimaschutz. Wie arbeitet die ÖBB mit den Sustainable Development Goals? 

Silvia Angelo: Klar ist: Die Mobilität über die Schiene ist klimafreundlicher als andere Mobilitätsformen. Aber, wir können uns immer noch verbessern. Das beweisen wir mit der Nachhaltigkeitsstrategie, die es seit 2020 bei uns gibt. Sie basiert auf den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen. 

Wir haben 17 Bausteine definiert, dazu zählen Klimaschutz, leistbares Mobilitätsangebot, Biodiversität oder Chancengleichheit. Im gesamten Unternehmen arbeiten wir daran, uns in diesen Bereichen zu verbessern und unsere Ziele zu erreichen. Das sorgt für nachhaltiges Wachstum.

Valerie Höllinger: Wie Standards das Erreichen der SDGs unterstützen, belegt auch eine Übersicht, welche die internationale Standardisierungsorganisation ISO veröffentlicht hat. Darin wird aufgezeigt, welche Standards konkret zur Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele beitragen. Für jedes Ziel hat die ISO diejenigen Standards identifiziert, die den größten Beitrag leisten. Diese Übersicht dient als Ressource für diejenigen, die nach einer konkreten Möglichkeit suchen, wie ihre Organisation ihren Beitrag leisten kann. 

Frau Höllinger, um es auf den Punkt zu bringen: Warum sind Standards ein gutes Instrument für mehr nachhaltiges Business-Wachstum?

Valerie Höllinger: Damit Unternehmen heutzutage langanhaltend erfolgreich sein können, braucht es mehr als reine Gewinnorientierung. Besonders die jüngere Generation, aber nicht nur, formuliert deutlich ihren Wunsch nach neuen unternehmerischen Methoden, die einen sozialen oder ökologischen Wandel in sich tragen. Damit hängen der langfristige Erfolg und das nachhaltige Wachstum eines Unternehmens immer stärker auch von seinem positiven Beitrag zur Gesellschaft ab. 

Die Agenda 2030 und die Sustainable Development Goals der UN stellen für nachhaltiges Wachstum die unternehmerische Verantwortung in den Fokus. Das bedeutet, Unternehmen tragen Verantwortung für die Umwelt und für die Menschen, sowohl für Kund:innen als auch für Arbeitnehmer:innen. 

Ein nachhaltig agierendes Unternehmen muss sich z.B. diesen Fragen stellen: Kann ich den CO2-Abdruck verringern bzw. ausgleichen? Erfüllen meine Herstellungs- und Bereitstellungs-Bedingungen anerkannte Qualitätsstandards? Standards geben hier eine Leitlinie, um auf der sicheren Seite zu sein.

Wir bedanken uns bei Ihnen beiden für das Interview!

weiterführende Links:

zu den Personen:

© feelimage, Felicitas Matern

© feelimage, Felicitas Matern

Valerie Höllinger ist seit Jänner 2022 Managing Director von Austrian Standards und seit 2021 Mitglied der Geschäftsführung. Die Juristin, Managerin und Unternehmerin verantwortete als Geschäftsführerin des BFI Wien die Geschäftsbereiche der Privat- & Firmenkunden, geförderte Bildungsprojekte sowie Finanzen und – neben der digitalen Transformation – die Segmente Innovation & New Business, Data Science, Vertrieb, Marketing & PR, Customer Care & Quality. Die gebürtige Wienerin war in den Branchen IT, Telekommunikation, Getränkeindustrie und Erwachsenenbildung als Managerin tätig und langjährige stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Bundestheater-Häuser.

© Hauswirth

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Silvio Angelo ist seit 2017 im Vorstand der ÖBB-Infrastruktur AG zuständig unter anderem für Finanzen, Personal, Immobilen. Vor ihrer Tätigkeit bei der ÖBB hat die Ökonomin die Wirtschaftspolitische Abteilung der Arbeiterkammer Wien geleitet und war für den Österreichischen Gewerkschaftsbund in Brüssel. Ihre berufliche Karriere hat sie im Bundesministerium für Soziales, Arbeit und Gesundheit begonnen. Ihr Studium hat sie bei der Wirtschaftsuniversität Wien (Studienrichtung Volkswirtschaft) abgeschlossen und sie hat eine Postgraduale Ausbildung (Colegio de México) absolviert.