Bauwerksbegrünung: Mehrwert für Klima und Gesellschaft

Austrian Standards hat Experten aus dem Komitee Komitees 229 „Grünräume“ gefragt, warum Bauwerke begrünt sein sollten und welche technischen Herausforderungen die Begrünung mit sich bringt. Im Interview erfahren Sie auch, wie Standards helfen, technische Probleme und planerischen Hürden zu überwinden.

In Zeiten der Klimakrise ist grüner Lebensraum Gold wert. Die Bauwerksbegrünung kann einen wertvollen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität leisten und das Mikroklima in Städten deutlich verbessern.

Wir haben Experten des Komitees 229 „Grünräume“ gefragt, welche technischen Herausforderungen die Begrünung für Bauherren, Planerinnen und Planer sowie die ausführenden Gewerke mit sich bringt und wie Standards bei der Lösung helfen. Das Interview wurde geführt mit:

  • Peter Amann, Sika Österreich GmbH
  • Herbert Eipeldauer, Ing. Herbert Eipeldauer Garten- und Landschaftsbau GmbH
  • Christian Oberbichler, Dachgrün GmbH
  • Jürgen Preiss, Stadt Wien
  • Werner Sellinger, grünplan Landschaftsarchitekten

Welchen Mehrwert bietet die Bauwerksbegrünung?

 

Austrian Standards: Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach die Bauwerksbegrünung für Großstädte und die Gesellschaft allgemein?

Jürgen Preiss: Die Bauwerksbegrünung spielt für zukunftsfitte Metropolen eine wichtige Rolle. Die Steigerung der Biodiversität auf und an grünen Gebäuden ist ein wichtiger Mehrwert für Mensch und Natur – genauso wie die Nutzung von Dachflächen als Imkerei oder zum Gemüseanbau.

Das Thema Regenwasserbewirtschaftung ist ebenfalls immens wichtig. In manchen Stadtteilen Wiens steht die Kanalisation bei Starkregen bereits am Anschlag. Heute wissen wir, dass auf Gründächern sehr große Niederschlagsmengen zurückgehalten werden können und so das Kanalsystem entlastet wird.

Die Kombination begrünter Flächen mit der Energienutzung mittels Photovoltaik und Solarpaneelen halte ich für ebenso bedeutsam und ist für die Energiewende nötig. Ein wichtiger Aspekt ist selbstverständlich immer auch der Faktor Mensch und dessen Lebensqualität. Die Nutzung begrünter Dächer wird an Bedeutung gewinnen. „Urban gardening“ bzw. „Urban farming“, also die Möglichkeit, sich gärtnerisch zu betätigen und in der Stadt das eigene Gemüse anzubauen, machen bereits Schule. Das macht auch absolut Sinn, weil Gebäude und deren Hülle eine bedeutende Ressource sind. In Wien haben wir rund 6000 Hektar begrünbare Dachflächen. Es wäre schade, diese Flächen brach liegen zu lassen.

Herbert Eipeldauer: Die Dach- und Fassadenbegrünung ist außerdem die einzige Möglichkeit, den verlorenen Boden, den man für das Bauwerk verfestigt hat, wieder zurückzugeben. Die Bodenversiegelung müssen wir uns wirklich zu Herzen nehmen. Es wird tagtäglich Fläche verbaut und vorhandene Grünflächen verschwinden.

Mit der Begrünung von Gebäuden gibt man einen Teil der Natur wieder zurück. Das brauchen wir als Stadt und für die Gesellschaft unbedingt, sonst fallen wir dem Klimawandel zum Opfer.

Werner Sellinger: Nicht zu unterschätzen ist der wohnraumbezogene Freiraum, der mit Dachbegrünungen entstehen kann. Dessen Bedeutung ist uns spätestens mit der COVID-19-Pandemie klar geworden. Das Dach bietet wertvolle Aufenthaltsmöglichkeiten, wenn man schon nicht in der Stadt spazieren kann oder lange Wege raus in die Natur sparen will.

Dann sind begrünte Dächer als Rückzugsort ein unschlagbarer Vorteil auch für die Psyche der Bewohnerinnen und Bewohner. Ein weiterer Mehrwert, der meiner Ansicht nach noch zu wenig berücksichtigt wird, ist die Lärmreduktion durch Fassadenbegrünung. Wir alle kennen moderne, vollverglaste Fassaden, die mit ihrer harten Oberfläche den Schall zurückwerfen, statt ihn zu schlucken bzw. zu brechen. Das gleiche Problem besteht auch bei Wärmedämmverbundsystemen, die ebenfalls sehr hart und glatt an der Oberfläche sind. Sie können Schall kaum absorbieren.

Mit begrünten Fassaden lässt sich der Umgebungslärm merkbar reduzieren. Die Bewohnerinnen und Bewohner genießen bei offenen Fenstern im Sommer die Verdunstungskühlung der Fassadenbegrünung und müssen dabei weniger Lärm ertragen – ganz ohne technische Infrastruktur, die sich manche gar nicht leisten können. Das reduziert den Stromverbrauch und den Einsatz von Chemikalien, wie FCKW (Fluorchlorkohlenwasserstoff) in Klimaanlagen. Mit der Gebäudebegrünung werden also mit einer einzigen Maßnahme, zahlreiche Vorteile für ein lebenswertes Wohnen in der Stadt generiert.

Peter Amann: Die Abdichtung ist bei begrünten Dächern in einem „geschützten“ Bereich und nicht den sehr stark schwankenden Temperaturen ausgesetzt. Die Langlebigkeit wird dadurch gefördert. Damit verbunden ist natürlich eine gute Planung und Ausführung. Ich sehe ein begrüntes Dach aber auch als eine Art Quelle, denn wenn man bedenkt, dass das Wasser durch 20 cm Substrat geht und dann vielleicht noch durch ein Kiesbett, bevor es in den Abfluss läuft, kann man sich die bessere Filterfunktion im Vergleich zu einem Nacktdach vorstellen. Ein Gründach ist also eigentlich eine Quelle, die Regenwasser gefiltert abgibt. Das erkennen auch immer mehr Entscheidungsträgerinnen und Bauherren.

Umdenken findet statt

 

Austrian Standards: Wie weit ist das Thema Bauwerksbegrünung schon in die Köpfe der Menschen gedrungen?

Werner Sellinger: Man merkt gegenwärtig einen positiven Trend. Oft werden ursprünglich als Kiesdächer geplante Flächen während der Ausschreibungsphase plötzlich doch als extensive Dachbegrünung geplant. Allerdings nicht unbedingt, weil man aus Überzeugung priorisiert grün bauen will, sondern aufgrund von Vorschriften. Sommerliche Starkregenereignisse mit 70 Liter Niederschlag in der Stunde und mehr, können einige Kanalsysteme nicht mehr fassen.

Viele Gemeinden reagieren mit Vorschriften, wie zum Beispiel die Stadt Salzburg mit der Reduktion der Abflussbeiwerte für Neubauten auf 0,15[w1] . Das bedeutet, nur 15% des Niederschlages darf in den öffentlichen Kanal eingeleitet werden. Der Rest muss am Grund retendiert oder zur Versickerung gebracht werden. Da Freiflächen auf den immer kompakter werdenden Grundstücken immer knapper werden, schaffen begrünte Dächer eine naturnahe Alternative. Sie verzögern den Abfluss des Wassers und verhindern so eine Überlastung der Kanäle. Auch die Wohnungen im obersten Geschoss profitieren davon, weil feuchtes Substrat im Sommer Hitzespitzen sehr gut abfedert und sich die Dachfolie statt auf 60 bis 70 Grad nur auf 35 oder 40 Grad Celsius aufheizt. Der Druck zum Umdenken nimmt zu, ausgelöst von den aktuellen klimatischen Veränderungen und den zunehmenden Starkregenereignissen.

Jürgen Preiss: Die Stadt Wien – Prüfanstalt untersucht zurzeit im Rahmen eines Forschungsprojektes den Begrünungsgrad der Dächer Wiens mit Drohnenflügen. Da tut sich viel. Außerdem wurden neue Fördertöpfe geöffnet und es wird an der Optimierung von Festlegungen in der Bauordnung gearbeitet – unter anderen für die Kombination von Begrünung und PV-Anlagen. Damit das funktioniert, müssen die Gewerke optimal aufeinander abgestimmt und zugänglich sein. Wichtig ist, alle Informationen so zu kommunizieren, dass die entsprechende Pflege langfristig möglich ist. Da braucht es sicher noch Bewusstseinsbildung. Bei der Stadt Wien ist das Commitment zur Bauwerksbegrünung jedenfalls groß. Verbesserungspotenzial sehe ich im teilweise aufwendigen Bewilligungsverfahren.

Peter Amann: Früher hat man PV-Anlagen einfach auf die Dächer montiert – mit massiven Pflegeproblemen als Folge, zum Beispiel weil die Paneele schwer oder gar nicht zu erreichen sind. Diese unreflektierten Montagen auf bestehende Strukturen können mit der überarbeiteten ÖNORM L 1131 zur Begrünung von Dächern und Decken auf Bauwerken in Kombination mit der M 7778 Montageplanung und Montage von thermischen Solarkollektoren und Photovoltaikmodulen nicht mehr passieren. Darauf wird die Solarbranche auch aufmerksam gemacht. Die Kombination Solar und Begrünung ist im Gewerk der Abdichtung natürlich ebenfalls sehr genau zu planen. Wenn eine Solaranlage in Kombination mit einem begrünten Dach installiert wird, kann mit der Verdunstungskälte sogar eine größere Wirkung der Anlage erzielt werden. Aber auch für die Abdichtung bringt eine Begrünung große Vorteile. Am nackten Dach verläuft der Alterungsprozess des Materials schneller, weil die Abdichtung immer ungeschützt der Sonne und den Temperaturschwankungen ausgesetzt ist. Bei einer Schicht von etwa 15 cm habe ich in der Abdichtungsebene immer die gleiche Temperatur. Im Vergleich zu einer schwarzen Folie oder schwarzem Bitumen, bringt die Begrünung eine Verlängerung der Haltbarkeit um bestimmt 20 %.

Nachhaltig planen heißt langfristig denken

 

Austrian Standards: Finden die langfristige Pflege und Erhaltung der Begrünung auch Eingang in die Standards?

Christian Oberbichler:  Ja, in den Standards wird die Nutzungsdauer der einzelnen Gewerke und Pflanzen definiert und diese Nutzungsdauer ist nur gegeben, wenn die fachgerechte Wartung und Instandhaltung gewährt sind. Das ist existenziell für eine nachhaltige Gebäudebegrünung, da eine kleine Begebenheit, wie zum Beispiel ein verstopfter Ablauf, das Dach unkontrolliert fluten kann und damit erhebliche Schäden am Gebäude oder an der Bepflanzung einhergehen können. Wartung, Pflege und Instandhaltung sind also ganz wichtig für die nachhaltige Bauwerksbegrünung und werden auch in den Standards beschrieben.

 

Vielen Dank für das Gespräch!

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Erfahren Sie in Teil 1 der Expertenrunde, warum die Standards zur Bauwerksbegrünung eine österreichische Pionierarbeit sind.

Erfahren Sie in Teil 3 der Expertenrunde, welche Chancen die Bauwerksbegrünung für die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt birgt und ob Standards auch finanzielle Vorteile bringen können.

ZU DEN EXPERTEN

Peter Amann, Sika Österreich GmbH

Ist Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Bauwesen. Die Fachgebiete sind Flachdachabdichtungen und Unterdächer bzw. Bauphysik – Feuchte- und Wärmeschutz. Seit Juli 2020 ist er Mitglied des Business Boards von GrünStattGrau und leitet den Fachausschuss „Flachdach“ – der sich u. a. mit Anforderungen von Dachbegrünungen (z. B. Regenwassermanagement oder Biozide) beschäftigt – sowie den Fachausschuss 1 „Abdichtungen“. Er ist in zahlreichen Standardisierungskomitees aktiv (national und international).

Herbert Eipeldauer, Ing. Herbert Eipeldauer Garten- und Landschaftsbau GmbH 

Innungsmeister-Stv. für die Gärtner und Floristen in Wien; Präsident der Österr. Gartenbaugesellschaft; Gründungsmitglied des Verbandes für Bauwerksbegrünung und der EFB (Europäische Föderation Bauwerksbegrünungsverbände); Mitglied der ELCA (europ. Landschaftsgestalter); GF der Fa. Eipeldauer GmbH; Einführung des Schweizer optima-Dachbegrünungssystems in Österreich; Planung und Ausführung von tausenden Dach- und Trogbegrünungen; Mitarbeit an den Richtlinien und der ONR für Dachbegrünung; Fachartikel und -vorträge über Dachbegrünung.

 

Christian Oberbichler, Dachgrün GmbH

Ist Eigentümer und Geschäftsführer der Firma Dachgrün GmbH; Begrünungsfachmann; Schwerpunkte: Dach- und Fassadenbegrünung, Beratung, Vertrieb und Ausführung von Bauwerksbegrünungen; 2. Vorsitzender des Verbandes für Bauwerksbegrünung; Univ.-Lektor an der Universität für Bodenkultur Wien; Fachvorträge an verschiedenen Fachschulen zur Ausbildung von Gärtnerinnen/Gärtnern, Gärtnermeisterinnen/-meistern und Gartenbauingenieurinnen/-ingenieuren. Mitglied des Komitees 229 „Grünräume“ und Leiter der Arbeitsgruppe 229.17 „Bauwerksbegrünung“.

 

Jürgen Preiss, Stadt Wien

Ist Absolvent der Universität für Bodenkultur – Studienrichtung Landschaftsplanung- und Pflege. Seit 2010 ist er tätig als Sachbearbeiter, leitender Stellvertreter im Bereich Räumliche Entwicklung der Abteilung Wien – Umweltschutz (MA 22) mit den Arbeitsschwerpunkten Urban Heat Islands – Strategieplan Wien sowie Programm zur Forcierung der Umsetzung von Bauwerksbegrünungen. Er leitet auch die Arbeitsgruppe Grün- und Freiräume des Programmes Ökokauf Wien.

 

Werner Sellinger, grünplan Landschaftsarchitekten

Ist Landschaftsarchitekt und Geschäftsführer von grünplan. Das Landschaftsarchitekturbüro hat sich der klimaangepassten Planung verschrieben. Er kombiniert mehr als 30 Jahre Erfahrung mit der Vision einer grünen Zukunft. Als Vorstandsmitglied im Verband für Bauwerksbegrünung leitet er den Fachausschuss 5 Planung. In zahlreichen Projekten wurden und werden die umfangreichen Erfahrungen als GREENPASS® Urban Climate Architect (UCA) zur Verbesserung der Klimaresilienz eingebracht.

 

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Ihre Expertise zur Bauwerksbegrünung ist gefragt

Dachbegrünung wird bei Austrian Standards im Komitee 229 „Grünräume“ behandelt. Hier werden Standards für die Bauwerksbegrünung entwickelt.

Bringen Sie jetzt Ihr Know-how ein, z. B. für die Regenwasserbewirtschaftung, Solarnutzung oder Biodiversität von Dachbegrünungen.

Haben Sie weitere Fragen zum Thema? Wir freuen uns auf Ihre Kontaktaufnahme.

Lisa Jesner, Committee Manager

Lisa Jesner

Committee Manager