4. Baustammtisch

Mit ÖNORM B 1600 wird aktuell eine wichtige Planungsgrundlage für das barrierefreie Bauen überarbeitet. Warum es damit mehr Flexibilität bei den Gestaltungsmöglichkeiten gibt, hat ein Panel beim 4. Virtuellen Baustammtisch von Austrian Standards diskutiert.

Mehrkosten und Überregulierung – diese zwei Aspekte werden oft mit barrierefreiem Planen und Bauen in Verbindung gebracht. Die Expertinnen und Experten der Diskussionsrunde des 4. Virtuellen Baustammtisches versuchten am 10. Oktober 2022 mit diesen Vorurteilen aufzuräumen.

Franz Artner, Chefredakteur des Magazins Building Times, moderierte das spannende Gespräch unter dem Titel „Allen recht getan: eine Kunst, die beim barrierefreien Bauen gelingen kann?“.

Mit am Podium: Maria Grundner, Referentin für Barrierefreiheit, Mobilitätsagentur Wien GmbH, Doris Ossberger, Leiterin der Kompetenzstelle für Barrierefreiheit im Blinden- und Sehbehindertenverband Österreich (BSVÖ), Thomas Pipp, Fachreferent der ÖBB Österreichische Bundesbahnen, und Dieter Schnaufer, Amtssachverständiger für Bautechnik, NÖ Baudirektion – Abteilung Anlagentechnik.

 

Was bedeutet Barrierefreiheit?

Ob beim barrierefreien Bauen allen recht getan werden kann, ist für Maria Grundner eine Sache der Definition von Barrierefreiheit. „Wenn eine Anlage nutzbar für die allermeisten Personen ist, ist sie barrierefrei. Die überarbeitete ÖNORM B 1600 für barrierefreies Bauen ist ein Anfang. Wir wissen, dass sich das Thema entwickelt. Durch die Überarbeitung wird es jetzt aber einfacher, barrierefrei zu bauen.“

Doris Ossberger ergänzte: „Von jedem gemocht zu werden, es also in diesem Sinne allen recht zu machen, nein, das kann barrierefreies Bauen nicht. Deswegen würde ich es gerne ein bisschen anders interpretieren. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nennt Barrierefreiheit ganz klar als Voraussetzung für eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe.

Wenn die Frage also lautet: ‚Kann barrierefreies Bauen einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, dass alle zu ihrem Recht kommen – zum Beispiel zu ihrem Grundrecht auf ein selbstbestimmtes Leben?‘ Dann kann ich sagen: Ja, das kann barrierefreies Bauen erreichen und deswegen muss es auch stattfinden.“

Thomas Pipp fügte hinzu, dass Barrierefreiheit auch eine Attraktivierung der Anlagen für alle Nutzerinnen und Nutzer am Stand der Technik bedeutet.

Auch Dieter Schnaufer betonte den Nutzen barrierefreier Planung für alle: „Das ‚Design for all‘-Prinzip bedeutet, dass durch das barrierefreie Bauen einem möglichst großen Benutzerkreis die gleichberechtigte Teilhabe oder gleichberechtigte Nutzung möglich ist – unabhängig von einer Behinderung. Von barrierefreien Gebäuden und Infrastruktur profitieren alle: ob das eine Person in einem Rollstuhl ist oder ein nicht behinderter Mensch, der etwas trägt oder einen Kinderwagen schiebt. In diesem Sinne macht man es dann allen recht, wenn man barrierefrei baut.“

 

Mehr Klarheit in der ÖNORM B 1600

In der Publikumsbefragung wurde deutlich, dass barrierefreies Bauen oft mit Überregulierung und Diskrepanzen mit dem Denkmalschutz in Verbindung gebracht wird. Dass die Neufassung der ÖNORM B 1600 „Barrierefreies Bauen – Planungsgrundlagen“ das barrierefreie Bauen erleichtert und Mehrkosten verhindert, erklärten die Expertinnen und Experten so:

Doris Ossberger: „Es wird oft gesagt, barrierefrei bauen ist unglaublich teuer, dabei gibt es Studien und Erfahrungen, die das Gegenteil belegen. Ziel der Überarbeitung war, mehr Klarheit zu schaffen. Wenn bestimmte Anforderungen falsch verstanden oder interpretiert werden oder Planerinnen und Planer nicht so vertraut mit dem Thema sind, kann es zu Mehrkosten kommen.

In der Überarbeitung sind vor allem klarere Angaben zu den Anforderungen und den Messmethoden. Ich denke, das kann einen Beitrag dazu leisten, dass die Kosten im Endeffekt günstiger ausfallen, weil effizienter geplant und gebaut werden kann. Wichtig ist, dass man nicht immer wieder Bestand produziert, der nicht barrierefrei ist und Mehrkosten durch die spätere Anpassung entstehen.“

Thomas Pipp berichtete aus der Praxis bei den ÖBB: „Wir haben zum Beispiel über die Jahre festgestellt, dass Instandhaltungsprobleme bei der Stufenmarkierung auftreten. In der neuen Fassung darf die Sicherheitslinie abgesetzt sein und muss nicht direkt an die Vorderkante stoßen. So haben viele Stakeholder aus der Praxis an der Überarbeitung der ÖNORM B 1600 mitgewirkt und konnten ihre Erfahrungen in die Neufassung einfließen lassen.“

Dieter Schnaufer: „Die neue ÖNORM B 1600 ermöglicht jetzt höhere gestalterische Vielfalt, zum Beispiel für Markierungen an Glasflächen. Auch funktionelle Anforderungen zur Durchsicht der Fenster oder zur Blickachse auf Balkonen wurden unter anderem neu aufgenommen. Für Sanierungsprojekte lässt die Neufassung mehr Spielraum und bietet alternative Lösungen. So findet man jetzt auch im Bestand leistbare Kompromisse, die im Einklang mit dem Denkmalschutz und unter schwierigen Gegebenheiten umsetzbar sind.“

Maria Grundner: „In der Neuauflage der ÖNORM B 1600 werden beispielsweise bei den Handläufen verschiedene Typen je nach Verwendungszweck und Größe eines Bauwerks definiert und in einer Tabelle übersichtlich dargestellt. Ebenso, welche Rampenbreite man für welchen Zweck wählen sollte.

So wird ein guter Bogen gespannt von den Mindeststandards der OIB-Richtlinien bis hin zu den funktionalen Anforderungen in den Standards. In diesem Sinne ist die ÖNORM B 1600 zwar umfassender geworden, die Ausführung wird damit aber deutlich einfacher. Man weiß jetzt genauer, was wie gebaut werden muss, und kann die Maßnahmen gezielter und effizienter planen und umsetzen.“

 

Mehrkosten oder Mehrwert?

 Barrierefreie Gebäude haben einen hohen Mehrwert, der sich auch gut vermarkten lässt, waren sich die Expertinnen und Experten einig. Allerdings wird dieser Mehrwert noch nicht hinreichend wahrgenommen.

„Es gibt so viele Faktoren, die Mehrkosten erzeugen, sich aber nicht dafür rechtfertigen müssen, sondern hingenommen werden. Die Barrierefreiheit ist immer in der Situation, dass sie sich verteidigen oder rechtfertigen muss“, stellte Doris Ossberger fest.

Thomas Pipp schlug in die gleiche Kerbe: „Laut Bürgerlichem Gesetzbuch liegt es in der Eigenverantwortung des Eigentümers, sein Objekt sicher zu gestalten und im Betrieb sicher zu bewahren. Niemand stellt die Frage, ob man zum Beispiel einen bestimmten Anschlagpunkt für eine Begehung am Dach braucht und ob Mehrkosten anfallen. Es ist eine Selbstverständlichkeit im Zusammenhang mit der Erfüllung des Gesetzes. Im Endeffekt muss es sich bei der Barrierefreiheit genauso verhalten.

Intelligente Planung von Anfang an, ist das Um und Auf. Dann muss man später auch nicht groß umbauen. Aufzüge sind zum Beispiel einfach Stand der Technik.“

Maria Grundner: „Wenn man in die Barrierefreiheit investiert, bedeutet das, in den Komfort der Kundinnen und Kunden zu investieren. Vor allem in der Orientierung und Wegefindung, dass die Gebäude vielleicht sogar intuitiv nutzbar sind, sehe ich noch viel Verbesserungspotenzial. Übersichtliche Gebäude mit cleveren Orientierungssystemen helfen nicht nur Personen mit kognitiver und intellektueller Behinderung, sondern genauso auch Leuten im Stress, die schnell etwas finden wollen, und dem Handel, der gewillt ist, seine Produkte visuell, aber auch haptisch auffällig zu präsentieren.

Der Begriff Barrierefreiheit wird oft viel zu eng gedacht. Wer sich im Rollstuhl bewegt, kann eine Höhe von 80 bis etwa 110 Zentimeter gut erreichen. Das ist genau der Bereich, den alle Menschen von Kind bis Senior gut erreichen. Die Kunst wäre es, so zu bauen, dass man die Barrierefreiheit gar nicht mehr spürt, sie also nicht mehr als ganz normal wahrgenommen wird.“

Vor der Vermarktung von Barrierefreiheit als komfortables Ausstattungsmerkmal warnte Doris Ossberger: „Komfort mag ein gutes Verkaufsargument sein, weil der Begriff positiv besetzt ist und sich mehr Leute damit identifizieren können, allerdings sehe ich die Gefahr, dass diese Argumentation weniger verbindlich und notwendig ist. Aus der Perspektive der Personen, die Barrierefreiheit brauchen, kann Komfort als Argument deshalb problematisch sein.

Trotzdem denke ich, dass sich die meisten Dienstleistungen besser verkaufen, wenn sie barrierefrei sind – inklusive der baulichen Umgebung. Um Barrierefreiheit stärker zu etablieren, könnte Komfort als Vermarktungsargument ein ergänzender Ansatz sein.“

Dieter Schnaufer zeigte sich überzeugt: „Mittlerweile sieht man, dass barrierefreie Gebäude – zumindest im Neubau – nicht mehr kosten, sondern einen großen Mehrwert bringen. Das ist auch in den Immobilienbewertungen schwarz auf weiß nachlesbar.“

 

Ausbildung und die Rolle der Gesellschaft

Abschließend ging das Podium noch auf die Fragen ein, wo die Ausbildung für barrierefreies Bauen angesiedelt ist und welche Rolle das grundlegende Verständnis für Barrierefreiheit spielt.

Thomas Pipp berichtete: „In großen Unternehmen wie den ÖBB ist Barrierefreiheit einfacher umzusetzen als in Kleinunternehmen, zum Beispiel durch ergänzende Regelwerke. Mit Building Information Modeling (BIM) haben wir auch diverse Möglichkeiten und Tools, schon in der Planungsphase eine gewisse Prüfroutine über die Pläne laufen zu lassen. Im Regelwerk 17 210 ist außerdem das europäische Design for all hinterlegt. Das ist ein Designverständnis, das alles durchzieht, das ganze Leben. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind darin schon gut geschult.

Die Ausbildung per se ist aber nicht klar definiert. Es obliegt derzeit meistens leider dem Zufall, inwieweit Planerinnen und Architekten Wissen und Erfahrung zum Thema mitbringen.“

Maria Grundner machte deutlich: „Das Verständnis und die Qualifikation für Barrierefreiheit müssen im Kindergarten, vielleicht in der Volksschule, beginnen. Das ist ein gesellschaftspolitisches Thema. Die Mobilitätsagentur stellt Pädagoginnen und Pädagogen Lehrmaterialien für Grundschule, Kindergarten und Sekundarstufe zur Verfügung und leistet damit Pionierarbeit – leider, weil insgesamt viel zu wenig viel zu spät passiert.“

Auch Dieter Schnaufer zeigte sich überzeugt, dass „die Grundlagen des Verständnisses in der Grundschule oder im Kindergarten vermittelt werden müssen“. Der zweite Schritt sei das bautechnische Wissen. Die fachliche Ausbildung sei jedenfalls noch verbesserungswürdig, weil Übungen und Vorlesungen zum Thema Barrierefreiheit meistens freiwillig seien.

Doris Ossberger: „Ich kann das zu hundert Prozent unterstreichen: Barrierefreiheit muss so früh wie möglich vermittelt werden und auch die bauliche, fachliche Ausbildung sollte so früh und oft wie möglich das Thema Barrierefreiheit enthalten.

 

Mehr zum Thema

 

Mehr zum Dialogforum Bau Österreich

www.dialogforumbau.at